Zur Ausstellungseröffnung
'grenzen ab'
Aus dem Werk von Kemal Kurt, Schriftsteller und Fotograf
Gehalten am 30.10.2003 im Schöneberg Museum
Meine Damen und Herren, liebe Kinder und Jugendliche,
Ich habe die Ehre, Sie in die Fotoausstellung grenzen ab von Kemal Kurt einzuführen. Sie sind hier, um das Program und das Buffet zu genießen, um Kemal Kurts Bilder zu sehen, vielleicht auch seine Bücher anzuschauen. Und Sie wollen auch die andere Ausstellung hier im Schöneberg Museum besuchen, "Villa Global - im Labyrinth der Kulturen", mit ihren sehr verschiedenen Einblicken in das Leben sehr verschiedener Menschen, die zweifellos Berliner sind, aber nicht unbedingt Deutsche. Und möglicherweise wollen Sie dann weiterziehen und andere Angebote der Langen Nacht der Museen an anderen Stellen wahrnehmen. Und Sie haben schon zwei Reden gehört. Deswegen will ich Ihnen nur ein paar Worte sagen. Ich entlasse Sie lieber mit dem Wunsch, Sie hätten mehr über Kemal Kurt und seine Arbeit erfahren, als dass Sie wünschten, Sie hätten weniger hören müssen. Denn Sie können sehr wohl mehr Freude an Kemal Kurts Arbeit haben: in der Ausstellung oder in seinen vielen literarischen Werken, seinen vielen Kinderbüchern oder seinem Fotoband menschen.orte.
Die Fotos, die Sie hier sehen, hat Kemal Kurt in seiner ursprünglichen Heimat, der Türkei, wie in seiner späteren Heimat, Berlin, aufgenommen. Er lebte und studierte in beiden Ländern und auch in den USA. Er schrieb in drei Sprachen. Sein Türkisch kann ich nicht beurteilen, aber sowohl sein Deutsch wie auch sein Englisch sind meisterhaft und intelligent, ein Vergnügen zu lesen. Und er war eine Rarität: ein Autor, der, ohne je einen Bestseller geschrieben zu haben, vom Schreiben leben konnte.
Das künstlerische Werk dieses Doktors der Ingenieurwissenschaft, der in Geschichte, Philosophie und Literatur belesen und bewandert war, bedarf keiner niedriggeschraubten Maßstäbe, keiner gönnerhaften Nachsicht, keiner Verbrämung unter dem Schlagwort "multikulturell". Zugegeben, wenn ein Künstler in drei Ländern und drei Sprachen lebt, wird Identität ein Problem und ein Thema, auch in seiner Kunst - und eins von Kemal Kurts Büchern, das anhand der eigenen Biographie dieses Problem und dieses Thema aufgreift, heißt "Was ist die Mehrzahl von Heimat?" Aber Kemal Kurt hat nie unter seinen Heimaten wirklich wählen müssen. Kemal Kurt war Weltbürger, und sein multikulturelles Leben war alles andere als fromme Ideologie oder die Summe mehrerer Provinzialitäten. In "Was ist die Mehrzahl von Heimat?" schreibt er, "Menschen haben keine Wurzeln, sie haben Beine." Und dafür baut er Brücken zwischen den Welten sogar nach seinem Tod: Wer hat vor seiner Beerdigung letztes Jahr je gesehen, dass ein christlicher Pastor und ein islamischer Imam nebeneinander eine Grabrede halten?
Kemal Kurts Fotos sind modern. Das mag paradox klingen bei Schwarzweiß-Fotos; bei Fotos, die auf formale Experimente und pfiffigen Schnickschnack verzichten; Fotos, deren Sujets weder inszeniert sind noch auf Zeitgeist schielen, sondern Fotos, die ganz normales Leben mit einem genauen Blick einfangen.
Eine sehr oberflächliche Betrachtung könnte diese Bilder als Kiezromantik abtun, aber hier führt weder Baskenmützen-Biedermeier noch Sozialkitsch Regie. Diese Fotos streben nicht weg aus der Gegenwart in eine vermeintlich idyllische Vergangenheit, noch in irgendeine stromlinienförmige Utopie der Zukunft. Sie verwandeln Alltägliches in Rätsel und laden den Betrachter ein, sich Geschichten, die dahinter verborgen sein könnten, auszuspinnen.
In seiner Kunst war Kemal Kurt gleichzeitig Realist und Fantast. Bei ihm aber waren Realismus und Fantasie keine Gegensätze. Seine Fantasie entdeckte Ironie und Humor, Wundersames und Skurriles, und dies in der Wirklichkeit und den Menschen. Seine Fotos bringen unsere schnell auf- und zugemachten Schubladen durcheinander: Berliner Gebäude, die wie heruntergekommener, antiker Orient anmuten; Mädchen mit Kopftuch, die Elektrogitarre spielen; ein thrakisches Dorf, das Unterhaltungsformen anbietet, die man in der Großstadt lange suchen müsste.
Seine Fotos öffnen auch unsere Augen für die Paradoxie und Poesie unserer Welt. Vielen Dank und viel Freude bei der Ausstellung!