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Kurzbiografie

 

Der Stellenwert der Literatur am Ende des Jahrhunderts
Kafkas Käfer liebt Blooms Frau


Ein eingeführtes Zitat von Chantal Schenten-Keller


Veröffentlicht in:
Beilage von "Luxemburger Tageblatt" und "jeudi" www.literatour.lu Februar 2003


Neben Ulrich Kargers Nachwort zum Tode von Kemal Kurt möchten wir an dieser Stelle den folgenden Buchauszug eines fiktiven Interviews, das der Autor Kemal Kurt (im Folgenden mit K.K. abgekürzt) mit den Teilnehmern eines fiktiven Kolloquiums über den Stellenwert der Literatur geführt hat, veröffentlichen.

Die Bibliothek von Babel ist voll, da aber die Trivialliteratur und der Sachbuchbereich wegen ihrer übergroßen Nachfrage unantastbar geworden sind, muss die Belletristik des 20. Jahrhunderts geopfert werden. Die Protagonisten bringen sich gegenseitig um ...

K.K.: Immer wieder werden in den Feuilletons Kassandrarufe laut, die den Tod des Romans verkünden. Was meinen Sie, wird die Belletristik das kommende Jahrhundert erblicken?

Mariagrazia Ardengo: Diese Frage kann ich nur mit einem entschiedenen „Jein“ beantworten. Der Tod der schöngeistigen Literatur, insbesondere der des Romans, wurde schon zu Beginn dieses Jahrhunderts verkündet, ist aber trotz hartnäckiger Gerüchte bis heute nicht eingetreten. Andererseits wurden die besten Romane, in denen das Erzählte eine Novität darstellte, im 19. Jahrhundert geschrieben. Der Zenit wurde nicht im jetzt ausgehenden, sondern bereits im Jahrhundert davor überschritten. Ich fürchte, dass Werke, die mit denen aus der Glanzzeit vergleichbar wären, auch im kommenden Jahrhundert nicht zu erwarten sind.

Josef Süss Oppenheimer: Mein Freund Leopold Bloom hat in den ihm zur Verfügung stehenden vierundzwanzig Stunden wenig Handlungsfreiheit gehabt. Er musste als eine moderne Schablone für einen antiken Stoff sowie für diverse stilistische Ausschweifungen herhalten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich halte weder Leopold noch seine entzückende Gattin Molly oder diesen klugen jungen Mann – wie heißt er noch gleich? – ach ja, Dedalus, Stephen Dedalus – für gescheitert und schätze ihre Fähigkeiten außerordentlich hoch ein. Aber Protagonisten im Sinne des Romans des 19. Jahrhunderts sind sie nicht: Sie haben keine Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mehr mit Madame Bovary, Père Goriot oder Thérèse Raquin. Bei Finnegan wird überhaupt nicht mehr erzählt oder gehandelt, sondern nur noch in Mehrdeutigkeiten gehechelt, gebabbelt und gesabbelt – und das in zweiundzwanzig Sprachen, die selbsterfundenen nicht mitgezählt. Ein geniales Sprachgebilde, das auch im kommenden Jahrhundert vielen Literatur- und Sprachwissenschaftlern Arbeit beschaffen wird, ein Lesegenuss ohnegleichen; ein Roman im herkömmlichen Sinne ist es aber nicht. Das war am Anfang des Jahrhunderts, und schon damals sprach man vom Tod des Romans.

Ahmet Cêlal: Hatte nicht 1928 Mandelstam seine Diagnose vom Ende des Romans gestellt? Doch dieses selbe Jahr wurde ein Jahr der Romane. Fiktionale Werke wird es immer geben, die Unkenrufe, die die Literatur begleiten, auch. Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.

K.K.: Brauchen wir so viele Romane? Haben wir nicht schon mehr als genug? Die Protagonisten des 19. Jahrhunderts waren in ihren Vorbildern von der Antike bis zur Romantik enthalten. Wir hätten beizeiten aufhören können, wir haben den und den und die, und die reichen uns vollkommen.

Johann Wilhelm Möbius: In der Tat entbehrt das nicht einer gewissen Tragikomik. Es ist nicht nur ein Platzproblem. Wir müssen aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden, damit unsere Nachfolger, die im allerbesten Fall schlechte Abziehbilder von uns sein können, als neu und originell gelten. Wir müssen sterben, damit der Roman weiterleben kann.

Mariagrazia Ardengo: Ich wiederhole: In periodischen Abständen sagen profilierungssüchtige Wichtigtuer den Tod des Romans voraus. Das gehört zum Ritual und darf nur als das bewertet werden, was es ist: Bestrebungen seitens am Rande der Literatur stehender Feuilletonisten, Literaturkritiker und –wissenschaftler, sich in den Vordergrund zu manövrieren.

Johann Wilhelm Möbius: Nicht der Mangel, der Überfluss ist der Grund des Übels – die Überbevölkerung. Früher gab es die Pest und Naturkatastrophen, die die Bevölkerung dahinrafften. Heute kann man sich gegen sie schützen, mit der Folge, dass die Erde aus allen Nähten platzt und die Natur zu kollabieren droht. Das Maß ist voll. Die Meere sind zu Kloaken geworden, die Erde ist ausgelaugt, die Wälder sind krank und die Luft stinkt. Wer kann es der Natur verübeln, dass sie sich wehrt und immer neue Viren, immer neue Krankheiten auf uns losschickt, um sich zu schützen? Wie freute ich mich, als das Virus Michelangelo sich weltweit in Rechnern einnistete und Millionen von geschriebenen Seiten löschte. Wie viele Romane, Gedichtbände, Sachbücher und Kurzgeschichten sind da wohl unwiederbringlich verlorengegangen! Das verschafft Platz, das verschafft Luft ...

K.K.: Eine Art natürliche Auslese also. Aber vielleicht wird es im nächsten Jahrhundert einen besseren Typus Protagonist und eine bessere Bibliothek geben.

Ahmet Celâl: Da habe ich wenig Hoffnung. Zweckgebundene Anliegenliteratur, Betroffenheitskram hat uns in der Vergangenheit mehr Schaden zugefügt als die avantgardistischen Experimente oder die rein auf finanziellen Erfolg ausgerichteten Trivialromane. Wir Protagonisten haben ein kurzweiliges Gedächtnis und lernen niemals aus unseren Fehlern. Unsere Nachfolger, die unsere Galerie übernehmen, werden die gleichen Fehler begehen und die Bibliothek rücksichtslos überbevölkern. In zwanzig, dreißig Jahren wird es soweit sein. Alles beschleunigt sich, die Uhren laufen immer schneller. Man hat Maschinen erfunden, damit wir nicht mehr so viel zu arbeiten brauchen und bequemer leben können. Aber mehr Zeit hat uns das nicht verschafft, im Gegenteil, unsere Zeit stecken wir in die Wartung dieser Maschinen, und sie wurde immer knapper. Es ist, als bewegten wir uns auf einer Spirale rückwärts, und der Radius unserer Umdrehungen wird immer kleiner.

Gabriel Grimes: Das ist der Grund, scheint mir, warum wir weniger gelesen werden. Nicht nur, dass wir mehr geworden sind, sondern auch die verfügbare Zeit hat stark abgenommen. Alle wollen ein Stück abhaben vom Zeitkuchen. Die Freizeitindustrie, das Fernsehen, das Kino.

K.K.: Glauben Sie, dass es die schnelllebigen Medien sind, die die große Form immer mehr verdrängen?

Mariagrazia Ardengo: Ich glaube nicht, dass die neuen Medien uns im Wege stehen. Weder das Fernsehen noch die Videospiele noch das Surfing im Internet kann die Romanlektüre ersetzen. Auch die Liebe hat, trotz neuer Freizeitangebote, nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Die technische Entwicklung hat bis heute keinen Ersatz für sie schaffen können, nach wie vor wird per Hand geliebt. Telefonsex und Kontakte über elektronische Medien sind keine ernstzunehmenden Alternativen zur manuellen Liebe. Auch gelesen wird heute mehr denn je, aber das Lesen verteilt sich aufmehr Bücher, und für jedes Buch kommt unter dem Strich viel weniger dabei heraus. Vor dreißig Jahren las ein Leser einen guten Roman nach ein paar Jahren noch einmal. Das kann man sich nicht mehr leisten. Und viele Bücher bleiben vollends ungelesen. Schauen Sie sich um: Überall um uns her stapeln sie sich, noch in Schutzhüllen eingeschweißt. Wir können uns kaum noch bewegen. Macht uns das etwa neugierig auf die Inhalte? ...

Auszug aus "Ja, sagt Molly".
Die Frage nach dem Stellenwert der Literatur am Ende des Jh. hat Kemal Kurt in diesem Buch hervorragend analysiert. Sein literarischer Nachlass bleibt uns erhalten. Viel wurde in den letzten Monaten apropos Kanon publiziert. Wir werden uns in unserer nächsten Nummer ausführlich dem Pro und Kontro beschäftigen.

C.K.



Kemal Kurt: Ja, sagt Molly. Hitit-Verlag, 1998, 159 Seiten, 15,27 €. Was ist die Mehrzahl von Heimat? Rowohlt. – Zaubersprüche. Nord-Süd-Verlag. – Wenn der Meddah kommt. Dressler. – Sieben Zimmer voller Wunder. Dressler. – Als das Kamel Bademeister war. Editions Orient. – Cora, die Korsarin. Dressler. – Die Kinder vom Mondhügel. Dressler. – Eine echt verrückte Nacht. Altberliner. – Die Sonnentrinker. Altberliner.!

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